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„Wenn man
sich organisiert
und aufmacht,
dann kann man auch
was erreichen“
Text: Michael Jänecke
Die abgeschlossene Tarifrunde wurde unter ungewohnten und schwierigen Rahmenbedingungen ausgetragen, mit den Ergebnissen können wir zufrieden sein. Lasst uns auf eine Vielzahl von Tarifauseinandersetzungen zurückblicken, die wir aus unserer Sicht meist erfolgreich ausgefochten haben. Häufig denkt bei Tariffragen nicht nur die breite Öffentlichkeit vornehmlich an die Metall- und Elektroindustrie im Westen. Dabei kann uns gerade ein Blick in den Osten ermutigen, natürlich auch, weil wir nun endlich einen Durchbruch bei der Angleichung der Arbeitszeit in der Metall- und Elektroindustrie erzielen konnten.

In der Bildungsarbeit bleiben als überraschend wahrgenommene Informationen oft besser hängen. Dass wir seit 23 Jahren auch die Kolleg*innen der Textil- und Bekleidungsindustrie organisieren, ist in unserer vom Automobil geprägten Gewerkschaft oftmals eher abstraktes Wissen. Erfolge im Osten werden, wenn überhaupt, eher als Abwehrerfolge wahrgenommen. Der – vorerst – nicht erfolgreiche Kampf um die Angleichung der Wochenarbeitszeit in der Metall- und Elektroindustrie Ostdeutschlands hat immerhin auch tief im Westen dafür sensibilisiert, dass es mit der vorenthaltenen 35 weiterhin eine Gerechtigkeitslücke gibt.
Die Geschichte des Kampfes um die Arbeitszeitangleichung lässt sich auch ganz anders erzählen: 15 Jahre nach dem schmerzhaften Scheitern der Arbeitszeitangleichung Ost-West in der M+E (2003) sollte dieser Anachronismus überwunden werden. Die Arbeitgeberseite schien verhandlungsbereit und die 35 in greifbarer Nähe zu sein. Diese Aufbruchsstimmung erfasste auch die Kolleg*innen in der Textilindustrie in den ostdeutschen Bezirken. Denn auch hier stand die Ost-West-Angleichung aus, zudem auf noch ungünstigerem Niveau. Der 37 im Westen stand die 40 im Osten gegenüber. Die Auseinandersetzung lässt sich anhand des Automobilzulieferers Audient und des Hygieneartikelherstellers Ontex beleuchten. Bei Ontex in Ostsachsen lag der Organisationsgrad vor den Verhandlungen bei mageren 20 %. Kai Hölzel, BR-Vorsitzender, erinnert sich an sein zentrales Argument: „Tretet ein und dann regeln wir das gemeinsam.“ Es gelang, den Orgagrad bis zum Abschluss auf etwa 50 % zu steigern. Die Beteiligten hatten, nicht zuletzt dank der Unterstützung aus der Automobilindustrie, das Gefühl, für ein gemeinsames Ziel zu kämpfen. Das kam, so die VK-Leiterin Heike Meyer bei Audient in Zwickau, in der Belegschaft gut an.
Der Verdruss über die andauernde Ungleichbehandlung und die konkrete Erwartung ihrer Überwindung führte zu einer offenkundigen Streikbereitschaft. Bei Ontex tauchte zum Tarifauftakt eine Vielzahl von Post-its auf Tischen, Türen und Flächen, von der Umkleide über den Sanitärbereich bis zum Pausenraum auf. Darauf standen Parolen wie „Alle zählen auf Schicht 2, sei auch Du dabei“, „Kommt mit – jeder zählt!“ oder „Wir sind mehr“. Von diesem ungewohnt offensiven Auftreten der IGM im Betrieb ließ sich der Chef zu einer ungeschickten Aktion verleiten. Beim morgendlichen Rundgang durch den Betrieb entfernte er alle Zettel, die er entdeckte. Die Kolleg*innen inszenierten ein Bild der Hilflosigkeit des Unternehmens, indem sie sofort neue Post-its verbreiteten.




Zum Ort der letzten Verhandlungsrunde in Meerane organisierten die Kolleg*innen einen Autokonvoi über eine Stecke von mehr als 15 km. Bei Audient half die Tatsache, dass ein Zulieferer die eben boomende E-Mobil-Produktion bei VW Zwickau just in time belieferte. Jeder Produktionsausfall hätte den Zulieferer in Schwierigkeiten gebracht. Ontex hatte zur gleichen Zeit Schwierigkeiten, neue Stellen zu besetzen, da die 40-h-Woche auch vor zwei Jahren nicht mehr zeitgemäß war.
Nach 14-stündigem Verhandlungsmarathon stand fest, dass es sich gelohnt hatte, in einen Konflikt zu gehen, bei dem anfangs nicht alle die Zuversicht von Kai Hölzel („Ich bin mit der Erwartung reingegangen, die 37 kommt.“) teilten. Andere wagten den Schritt in die Auseinandersetzung, bei der „man nicht wusste, wie es ausgeht“ (Heike Meyer).
Der Verhandlungsleiter der IG Metall, Manfred Menningen, konnte resümieren: „Es wurde höchste Zeit neben einer Entgelterhöhung für die Beschäftigten, die Tag für Tag gute Arbeit leisten, die Angleichung der Arbeitsbedingungen in der ostdeutschen Textilindustrie zu vereinbaren.“ Der Zeitrahmen reicht dabei bis ins Jahr 2027. Dass auch die Einführung der 35-Stunden-Woche in der alten Bundesrepublik nur in einem elf Jahre währenden Stufenplan durchgesetzt werden konnte, war manchen nicht bewusst.

So wäre denn auch diese Tarifrunde unvollständig beschrieben, wenn man nicht auch einzelne Unmutsäußerungen hätte notieren müssen. Sogar – aber auch das kommt immer wieder vor – das Wort Verräter fiel. Da galt dann, was immer gilt: Nach dem Abschluss ist vor der Diskussion. Die Meisten ließen sich überzeugen. Und auch für die Arbeitgeberseite hatte sich ein Lernprozess organisieren lassen. „Die [Textilarbeitgeber aber] wissen, wenn sie Ärger machen, dann kommt da was zurück,“ so Kai Hölzel.
Und schließlich haben wir, Dank des Engagements dieser Kolleg*innen, ein weiteres Argument in Richtung Arbeitgeber der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie. Warum soll das, was im Textilbereich funktioniert, nicht auch für M+E möglich sein?
Das Bildungsmagazin

Michael Jänecke ist freiberuflicher Politologe und arbeitet als Außenreferent für die gesellschaftspolitische Bildung der IG Metall.
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