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Das Bildungsmagazin



Die Pandemie hat dazu geführt, dass wir uns in den letzten Monaten verstärkt digitaler Bildung sowie digitaler Ansprache-Kampagnen und -Formate gewidmet haben. Vielerorts konnten wir die Erfahrung machen, dass Streiken auch im Homeoffice geht. Am 01. März starteten bundesweit zehntausende Metaller*innen gemeinsam in die Tarifrunde - in einem zweistündigen Online-Auftakt mit vielen spannenden Einblicken in die Regionen und ihre geplanten Aktionen. Moderiert wurde dieses neue Format von zwei Kolleg*innen aus der Bildungsarbeit.

In Baden-Württemberg wiederum schalteten die Beschäftigten für kurze Zeit ihren Computer aus und teilten per Abwesenheitsnotiz mit: „Ich bin im Warnstreik!“ Die heimische Arbeitsniederlegung wurde durch digital verfügbares Unterhaltungsprogramm begleitet. Dies umfasste beispielsweise eine Gymnastik-Einheit sowie eine Kochshow mit dem Bezirksleiter der IG Metall, Roman Zitzelsberger. Wir lernen also wieder etwas dazu: In einer Tarifbewegung können Schlachten auch im World Wide Web ausgetragen werden. Was das im Hinblick auf die bevorstehenden Betriebsratswahlen heißt, wird sich zeigen. Aber das Digitale wird auch da sicher eine große Rolle spielen.

Wir sind notgedrungen also sehr erfinderisch, gehen mit den gegebenen Möglichkeiten kreativ um und sorgen für mediale Aufmerksamkeit sowie für ökonomischen Druck auf die Arbeitgeber – und dies mit völlig neuen Mitteln. Eben galt noch: „Mehr digital wäre schön.“ Und schon scheinen wir im „analog gibt es nicht mehr“ angekommen zu sein. Zumindest vorerst. Doch: Was bedeutet das für unsere Bildungsarbeit? Und stimmt das überhaupt?

„Es macht keinen Sinn, das Physische gegen das Digitale auszuspielen“

Das Format, in das wir unsere Bildungsarbeit traditionell kleiden, ist das des „Seminars“. Dies hat damit zu tun, dass die Teilnehmenden aus ihrem Arbeitsalltag befreit, ja herausgerissen werden sollen, um eine herausgehobene, konzentrierte und intensive Bildungserfahrung machen zu können. Es hat auch damit zu tun, dass uns der zwischenmenschliche Austausch wichtig ist und wir die Diskussionen und die Arbeit in Gruppen lieben: Bildung ist auch eine soziale Erfahrung des Zusammenhalts – im Kampf um ein gemeinsames Ziel. Etwas nüchterner formuliert: Unsere Bildung ist ein besonderes Ereignis, für das unsere Bildungszentren den geeigneten Rahmen bieten. Und nicht zu vergessen: Hinter unseren Seminaren steht eine lange gewerkschaftliche Tradition. Sie reicht zurück bis zu den proletarischen Vorlesern in den Fabriken, den Arbeiter-Lesezirkeln und den gewerkschaftlichen Bibliotheken. In dieser Hinsicht sind sie für unsere Bildungsidentität von enormer Bedeutung.

Dank zahlreicher engagierter und kreativer Kolleg*innen können wir einen Teil unserer Seminare auch im Lockdown aufrechterhalten – indem wir sie in das World Wide Web verlegt haben. Und es ist klar, dass die hundertprozentige Digitalisierung von Seminaren sowohl Vorteile als auch Nachteile hat: Die Vorteile liegen beispielsweise darin, dass wir räumlich ungebunden sind, und dass wir ohne Medienbrüche vorbereiten, kommunizieren, nachbereiten und dokumentieren können. Wie unser digitales Bildungsprogramm zeigt, machen wir von solchen Möglichkeiten bereits ausführlich Gebrauch. Die Nachteile wiederum bestehen ganz deutlich darin, dass Bildung als ein besonderes, raumzeitlich herausgehobenes Ereignis nicht mehr existiert. Die physische Nähe zu den KollegInnen ist nicht mehr gegeben, Rahmenveranstaltung, die die Lernerfahrung mitprägen, fallen flach und das eigene Arbeitszimmer ist nicht so aufregend wie unsere Bildungszentren – bei Weitem nicht. Außerdem sind selbst so ausgeklügelte Konferenz-Anwendungen wie Zoom immer noch defizitär, wenn es um freien Meinungsaustausch und kreatives Brainstorming geht, wenn auch nonverbale Kommunikation eine Rolle spielt, oder wenn einfach mal alle im Kreis sitzen möchten.

Für die meisten von uns dürfte also feststehen: Irgendwann, oder auch so schnell wie möglich, möchte ich meine Präsenz-Seminare aber gefälligst wieder zurückhaben! Fest steht aber auch: Es macht keinen Sinn, die Pros und Contras von Präsenz- und Online-Seminaren ständig gegeneinander auszuspielen. Corona hat uns durch die starre Trennung des einen vom anderen und die Notwendigkeit des Totalverzichts auf „Präsenz“ in dieser Hinsicht keinen Gefallen getan. Im Gegenteil: Die Fronten wurden eher gefestigt. Dabei erscheinen solche Polarisierungen per se weltfremd zu sein. Beispielsweise merkt Prof. Michael Kerres in einem unserer Bildungspodcasts an, dass die Abwägung zwischen dem „Digitalen“ und dem „Analogen“ die uns umgebende Wirklichkeit komplett negiert. Sie verkennt, wie sehr sich das Digitale bereits in unsere Lebenswelt eingenistet und mit dem Analogen verschränkt hat: Heute muss Bildung sich zu einer Welt verhalten, die durch analoge und digitale Technik geprägt ist.


Das Beste beider Welten vereinen

Statt um „besser“ oder „schlechter“ geht es also um die richtige Verschränkung bzw. Erweiterung des Analogen durch das Digitale. Wir sollten danach fragen: Wo können uns digitale Tools bei unseren Präsenz-Seminaren weiterhelfen? Wie können wir sie am besten integrieren? Genau mit solchen Fragen haben sich die Referent*innen unserer Bildungsarbeit in den letzten Monaten intensiv auseinandergesetzt. Und es sind gleich mehrere Podcasts zu diesem Thema entstanden.

Eine wichtige Beobachtung besteht darin, dass sich unsere Bildung ohnehin auf den Weg gemacht hat. Und wenn wir Sok Yong Lee aus dem Funktionsbereich Gewerkschaftliche Bildungsarbeit in der Vorstandsverwaltung der IG Metall folgen, ist der Motor dieses Aufbruchs nicht das Digitale, sondern ein sich verändernder Bildungsbegriff: So beispielsweise der Wandel vom Frontalunterricht zum selbstständigen Aneignen und Üben, vom „Dozenten“ zum „Lerncoach“ oder auch von der theoretischen zur projektbezogenen Arbeit. Außerdem spielen bestimmte „Zielgruppen“ und individuelle „Lerntypen“ eine viel größere Rolle als früher. Und die gute Nachricht lautet: Genau darin können uns digitale Instrumente wunderbar unterstützen.
So malt beispielsweise Prof. Dr. Michael Kerres, den wir in einem unserer Bildungs-Webtalk zur Zukunft der Bildung befragt haben, ein buntes Bild des vernetzten und datenbankbasierten Lernens, das sich örtlich und zeitlich ungebunden ereignet, sehr selbstverantwortlich, aber auch im regem Austausch verläuft, und die ubiquitäre Verfügbarkeit von Informationen und Wissen nutzt: „Die Bedeutung des individuellen Wissenserwerbs tritt [...] gegenüber der Verfügbarkeit kollektiven Wissens, der Partizipation an diesem Wissen und seiner Entwicklung zurück.“ Unter den positiven Resultaten einer solchen Bildungskonzeption sind laut Kerres besondere Problemlösefertigkeiten, Lerntransfer, Selbstlernkompetenz und Teamfähigkeit hervorzuheben.

Ein technisches Beispiel hierfür bieten cloudbasierte Learning Management Systeme wie das von einigen Referent*innen verwendete „Moodle“, das interaktives sowie selbstständiges seminar-begleitendes Lernen fördert. Außerdem haben sich im Seminar-Zusammenhang besonders die Applikationen Flinga, Conceptboard, Cryptpad und Teambits für die unmittelbare Anwendung im Seminarbetrieb bewährt.


Kennt ihr diese Tools schon?

Conceptboard: ist ein virtueller Kollaborationsarbeitsplatz in der Cloud, der die Zusammenarbeit zwischen Teams über verschiedene Standorte oder Zeitzonen hinweg erleichtert. Die Plattform bietet Online-Whiteboards für die Produktentwicklung, die Planung von Projekten, das Brainstorming von Ideen, die Durchführung virtueller Meetings und die Bereitstellung von Feedback in Echtzeit.

Cryptpad: Mit CryptPad kann man kollaborative Dokumente erstellen, um Notizen und Ideen gemeinsam zu bearbeiten. Durch das Teilen eines Links können die Mitglieder eines Teams gleichzeitig Dateien bearbeiten und alle Änderungen live mitverfolgen. Damit ist CryptPad eine sichere und verschlüsselte Alternative zu Google Docs.

Flinga ist eine kostenfreie Web-Anwendung, die zur kollaborativen Arbeit in Gruppen oder im Unterricht genutzt werden kann. Derzeit bietet die Webseite ein Whiteboard und eine Kartenabfrage zum Teilen und gemeinsamen Bearbeiten an.

Moodle ist ein Learn Management System auf Open-Source-Basis (kostenfrei), die kooperatives Lehren und Lernen unterstützt. Der Name „Moodle“ ist ein Kunstwort und bedeutet aus dem Englischen übersetzt „modulare objektorientierte Online-Lernumgebung“. Moodle erlaubt die Anlage von Lern-Szenarien für unterschiedlichste Bildungsformate.

Teambits ist eine Plattform für Veranstaltungsmoderationen, interaktive Vorträge, Zuhörerfragen, Brainstormings, Abstimmungen, Wahlen, Fragebögen und Quizspiele. Die Teilnehmer nutzen ihre Smartphones und loggen sich über einen Link ein. Eine Software-Installation ist nicht erforderlich.


Mediendidaktiker Guido Brombach weist darauf hin, dass individuelles Lernen und Aneignen heutzutage zu einem Großteil durch digitale Medien, Formate und Angebote gestützt wird. Sei es, dass wir ein Erklärvideo anschauen, mithilfe einer Suchmaschine nach Informationen recherchieren oder bei einem Podcast anderen Menschen beim Denken zuhören. Natürlich greifen einige von uns zumindest ab und zu noch auf Bücher zurück. Graham Attwell nennt das eine „Personal Learning Environment“. Damit ist das spezifische Konglomerat an analogen und digitalen Medien gemeint, welches Individuen zum individuellen Wissenserwerb nutzen.

Guido vertritt die Auffassung, dass wir im Seminar mit diesen Personal Learning Environments im Sinne unterschiedlicher Lernvoraussetzungen umgehen müssen. Denn erst dann, wenn im Seminar die vorhandenen und individuell erworbenen Lernstrategien angewandt werden können, ist Kompetenzerwerb möglich: „Da jeder Mensch seine eigenen Lernstrategien entwickelt hat und Informationserwerb und -konstruktion zunehmend durch digitale Medien vermittelt werden, ist es unerlässlich, auch im Seminarraum digitale ‚Kultur-Zugangsgeräte‘ zu nutzen.“ Damit können Bildungsangebote, die digitale Medien als ein Werkzeug der Erkenntnisgewinnung in die Bildungsangebote mit einbeziehen, für unterschiedlichste Lerntypen anschlussfähig werden.


Fazit: Natürlich sind die Möglichkeiten des Digitalen sorgsam mit unserem Bildungsverständnis abzugleichen – wir entscheiden, was wir wollen und was nicht. Es liegt jedoch auf der Hand: Die Alternative zwischen dem „Digitalen“ und dem „Analogen“ gibt es nicht mehr. Lasst uns also unsere Gewohnheiten infrage stellen, offen sein für neue Vorschläge und Möglichkeiten abwägen. Wir forschen viel, diskutieren viel und probieren auch viel aus. Ganz ausdrücklich hat Prof. Kerres übrigens unsere BR kompakt-App gelobt. Wir dürfen gespannt sein, wie wir an zukünftig an der Schnittstelle zwischen dem Digitalen und dem Physischen operieren werden. Oder in den Worten von Prof. Kerres: Wie bei uns die „Verschränkung“ des Digitalen und Analogen ausfallen wird.


Verwendete Begriffe…

…Learning Management System
Mit einem Learning Management System lassen sich Lerninhalte und Aufgaben zur Verfügung stellen – in Form von Texten, Bildern, Podcasts, Videos oder interaktiven Modulen. Daneben lassen sich Nutzerdaten erstellen und verwalten, Lernprozesse organisieren, überwachen und messen sowie Lernende beurteilen. Durch Chats und Foren können Lehrende und Lernende miteinander kommunizieren. Mit Learning Management Systemen können unterschiedliche Lerntypen angesprochen und abwechslungsreiches und verwaltungssparendes Lernen erzeugt werden. Technisch handelt es sich zumeist um browserbasierte Content- Management-Systeme.

…Personal Learning Environment
Der Ausdruck „Personal Learning Environment“ ist nicht klar definiert, kann aber als Konzept der individuellen Ausgestaltung der eigenen Lernumgebung verstanden werden. Der wichtigste Aspekt ist, dass der Lernende diese Umgebung unter seiner Kontrolle hat und seine Lern- und Arbeitsumgebung individuell gestaltet, um Wissen zu entwickeln und mit anderen teilen zu können. Obwohl damit prinzipiell die gesamte persönliche Lernumgebung gemeint sein kann (beispielsweise Schreibtisch, Bücherei, Computer, Zeitung, etc.), wird der Begriff teilweise auf die individuelle Zusammenstellung von (Social-)Software, Web-Services und mobilen Technologien, die das zumeist informelle Lernen mit dem Computer unterstützen, verengt.





Quellen
  • Physische und digitale Bildung zusammen denken
  • Neujahrsforum
  • Podcast: Digitale Bildung. Segen oder Fluch für die IG Metall
  • Dossier: Von der Wissensvermittlung zur produktionsorientierten politischen Bildung

Die Redaktion dankt Guido Brombach aus dem Bildungszentrum Sprockhövel für wichtige Hinweise!







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  Ein Rückblick auf
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Ist digital besser

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